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Oliver Streiff
Architekt und Jurist
Dozent an der ETH Zürich

Oliver Streiff plädiert für eine produktives Zusammenspiel von Jurisprudenz und Architektur. Seine Ideen trägt er auch in die Hochschulen, die er als Laboratorium für raumplanerische Innovationen nutzt.

Raum: Ordnung?

Im Slogan «Baugesetze formen» treffen zwei Sphären aufeinander, die im Allgemeinen wenig gemeinsam haben. «Baugesetze» werden in wiederkehrenden Prozessen der Rechtsproduktion formuliert, angewendet, möglicherweise rechtswissenschaftlich untersucht oder in gesellschaftlichen Gefässen diskutiert. Das Verb «formen» dagegen weist auf ein im Slogan ausgespartes Objekt hin: den Stadtraum. Stadtraum wird im Zusammenspiel vieler Disziplinen produziert, in entscheidendem Mass involviert sind die Architektinnen und Architekten. Ich lese die Fügung im Slogan als Aufforderung an die jeweiligen Akteure, den gedanklichen Pfad einer einseitigen Beziehung von Ursache und Wirkung – Baugesetze formen den Stadtraum – zu verlassen. An seine Stelle soll das Bild der wechselseitigen Beziehung, der Korrelation zwischen Rechtsproduktion und Raumproduktion treten: Juristen, nehmt euch des Raums an – Architekten, nehmt euch der Norm an!

Ein Ort, wo dieser Imperativ Widerhall finden kann, ist die Hochschule. Es gilt, an den Hochschulen Netzwerke und Gefässe aufzubauen und zu pflegen, die nicht etablierten Disziplinen, sondern dem hier relevanten Problem verpflichtet sind, nämlich dem Zusammenspiel zwischen raumwirksamen Normen und der Gestalt des architektonischen Raums. Die Schwerpunkte können dabei in unterschiedlichen Bereichen liegen. Ich denke an das weite Feld zwischen empirischem Baurecht und regelbasiertem Entwurf, zwischen der Baurechtsfabrik im Sinne Bruno Latours und den Musterbüchern Asher Benjamins, aber auch an die Normativität von Bautechnologie an sich. Ausgehend von Seminaren, Workshops, Semester- oder Abschlussarbeiten können Studierende eine problemorientierte Herangehensweise erlernen, kritische Standpunkte entwickeln (siehe den Beitrag der Studenten Leon Beck, Michèle Favre und Patricia Kneubühler zu Stadtbildkommissionen) oder das Zusammenspiel im Idealfall sogar forschend untersuchen. Was wir dazu benötigen, sind gemeinsam getragene, integrativ wirkende Leitbegriffe. Eine solche Funktion kann beispielsweise der in unterschiedlichen Literatursträngen auftretende Begriff «lawscapes» übernehmen.

Ich plädiere dafür, den Slogan «Baugesetze formen» in einen breiten Kontext einzubetten. Es sind nicht nur Ästhetikparagraphen und Zonenvorschriften, die in unseren Stadträumen wirken. Genauso relevant sind etwa die Körnung und Schichtung von Grundeigentum, die Zugänglichkeit von Strassen, Plätzen und Räumen, die umweltrechtlichen Vorschriften oder die Vorgaben zur zulässigen Transformationsgeschwindigkeit der Stadt. Damit stellen sich ganz unterschiedliche Fragen nach dem Verhältnis zwischen Ordnung und Unordnung, zwischen Regulierung, Selbstregulierung und Deregulierung. Mit den unterschiedlichen Fragen können ebenso unterschiedliche Lösungsansätze einhergehen: von der Überarbeitung materieller Normen über die Prozeduralisierung bis hin zu organisationsrechtlichen Massnahmen kommen unterschiedliche Ansätze in Frage. Gerade die Möglichkeiten des Organisations- und Verfahrensrechts dürfen bei abnehmendem gesellschaftlichem Konsens darüber, was die Qualität des architektonischen Raums ausmacht, nicht unterschätzt werden. Am Beispiel: Ebenso relevant wie das Paradigma der Einordnung ist die Frage, wer, wie und in welchen Abläufen über die Einordnung debattiert und entscheidet.

Man braucht sich keine Illusionen zu machen: Die Rechtsproduktion wird im Allgemeinen von ganz andersartigen Akteuren geprägt als die Raumproduktion. Auf der einen Seite werden Normen und damit auch Ordnung, Bewahrung und Konformität hochgehalten und durch die inhärente Nähe zur Macht gewichtig. Auf der anderen Seite stehen häufig der Wunsch nach Autonomie, die Vorstellung von Progression und das Streben nach Nonkonformismus. Diese Divergenzen zeigen sich schon auf der Ebene der Begriffe: Der anonyme «Gesetzgeber» und der individuelle «Entwurfsarchitekt» sprechen nicht dieselbe Sprache. Nur: Schrecken wir vor diesen Sprachproblemen zurück? Oder nehmen wir sie zum Anlass für produktive Missverständnisse und eine gemeinsame, von akademischen Strukturen getragene Wissensproduktion?