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Hansruedi Diggelmann
Jurist, Raumplaner, Netzwerker

«Bauen ist in erster Linie eine kulturelle Aufgabe, keine rechtliche.»

Herr Diggelmann, können Baugesetze überhaupt eine gute Architektur gewährleisten?

Eigentlich nicht, aber es gibt andere Hoffnung. Ich sehe prinzipiell zwei Möglichkeiten. Erste Variante: Ein achtsamer Bauherr, der grosszügig und kompetent ist, beauftragt einen guten Architekten. In einer solchen Konstellation kann wohl selbst die schlechteste Baugesetzgebung die Welt nicht verschandeln. Der Bauherr muss aber wirklich grosszügig sein: Denn falls er einfach alles ausreizen möchte, was der Markt und die Rechtsprechung hergeben, dann muss er halt auch all die rechtlichen Unsinnigkeiten wie abstandsbedingte Vieleckgrundrisse oder abgegrabene Untergeschosse realisieren. Eine Kulmination der Scheusslichkeiten!

Sind gute Architekten also die Lösung?

Nur bedingt, denn es gibt zu wenige davon. Die guten Architekten können sich zudem konjunkturbedingt derzeit die Rosinen aus dem Kuchen picken. Sie bauen am liebsten im Rahmen von Sondernutzungsplanungen. Aber was ist mit der Massenware, die wir ebenfalls brauchen? Verdient nicht auch diese eine gute bauliche Qualität? Gerade das Alltägliche soll doch Freude machen! Und selbst wenn sich die schlechteren Architekten die Guten zum Vorbild nehmen, dann sind sie in den Schranken der Baugesetzgebung und wegen der Marktkräfte gar nicht in der Lage, gute Bauten zu errichten. Sie sind dazu verdammt, die Schranken des Baurechts bis zum Rande hin baulich abzufüllen.

Und was ist die zweite Möglichkeit, die Ihrer Meinung nach zu guter Architektur führt?

Die andere Variante ist eine achtsame Baubehörde oder ein ebensolcher Gemeindepräsident. Wenn die Gemeinde frühzeitig mit dem Bauwilligen in Kontakt tritt und zusammen diskutiert wird, was die Gemeinde als Ganzes will und was der Bauwillige als Individuum möchte, dann sollte man zusammen eine massgeschneiderte Lösung ausarbeiten dürfen, die beiden nützt. Bauen ist nun halt mal in erster Linie eine kulturelle Aufgabe, keine rechtliche. Dieses Vorgehen muss aber frühzeitig stattfinden, bevor allzu viel Planungsaufwand betrieben wurde – denn dann hat man sich bereits in eine Sackgasse manövriert, die einen Kurswechsel zum Besseren nicht mehr erlaubt.

Bauen ist also eine kulturelle und gemeinschaftliche Aufgabe.

Natürlich! Wir leben in einer Demokratie und bauen nicht für den lieben Gott oder einen absolutistischen Herrscher. Die italienischen Stadtrepubliken des ausgehenden Mittelalters haben uns gezeigt, wie man vorzugehen hat. Dort war die Baubehörde ein Zwangsamt, zu dem man verpflichtet werden konnte. Aufgabe war es, sich um das Gemeinwohl der Civitas zu kümmern. Es war ein beständiger Verbesserungsprozess der Stadtgestalt – basierend auf einer gemeinsamen Wahrnehmung der aktuellen städtebaulichen, ökonomischen und sozialen Probleme, die es zu lösen galt. Das Recht war damals nicht einfach dazu da, rein abstrakte Masse vorzugeben.

Das Wichtigste am Recht sind nämlich nicht einzelne Bestimmungen, denn die veralten schnell oder können unterschiedlich ausgelegt werden. Vielmehr besagt ein generelles Mantra der Rechtswissenschaft: «Recht entsteht durch Verfahren». In diesem Sinne müsste man beherzt neue Verfahrensbestimmungen schaffen, statt in pedantischer Akribie Masse und Baubegriffe zu harmonisieren, wie man dies nun in der Schweiz mit der IVHB versucht.

Eine massgeschneiderte Lösung hört sich aber nach einer Ausnahme oder – negativ formuliert – nach einer Extrawurst an. Wie können Ausnahmen rechtlich reglementiert werden?

Ausnahmen sollten unter gewissen Bedingungen zulässig sein. Und zwar immer dann, wenn man nach den allgemeinen Spielregeln nicht zu einem befriedigenden Resultat kommt. Natürlich müssen die wesentlichen Aspekte, bei denen es gewissermassen um Leben und Tod geht, erfüllt sein. Brandschutz und Hygienevorschriften beispielsweise. Im Übrigen aber sollten Ausnahmen zumindest diskutiert werden dürfen. Projekte, die auf Grundlage einer kritischen Gesamtwürdigung eine gute Lösung gewährleisten, und die auch keine grundlegenden Nachbarschaftsrechte verletzen oder dergleichen, sollten bewilligt werden dürfen.

In allen kantonalen Baugesetzen finden sich vergleichbare Paragrafen, nämlich die sogenannten Ästhetik-Generalklauseln. Sie erlauben, dass Projekte aufgrund einer kritischen Gesamtwürdigung nötigenfalls überarbeitet werden müssen oder von der Baubehörde sogar abgelehnt werden können, auch wenn dem Buchstaben nach alle einzelnen baugesetzlichen Bestimmungen eingehalten sind.

Ich möchte ein ergänzendes und positives Gegenstück dazu. Ein Artikel also, mit dem nicht nur ästhetisch unbefriedigende Bauten abgeschossen werden können, sondern mit dem besonders gute Architektur, die bis zu einem bestimmten Grad formell von einzelnen Bauvorschriften abweicht, ermöglicht werden kann. Gewissermassen eine «Städtebauklausel» im Dienste guter Architektur.

Wichtig ist mir, dass es um Lösungen konkreter Aufgaben geht. Wenn die Gemeinde schon die Möglichkeit hat, Baubewilligungen zu erteilen, und wenn sich Mitglieder des Gemeinderats weitgehend ehrenamtlich engagieren, dann sollten sie auch etwas zu entscheiden haben. Ich möchte keine reinen Vollzugsmaschinen mehr sehen, sondern Menschen, die sich politisch engagieren und etwas bewegen wollen – und dies auch tun dürfen!

Wer ist in diesem Falle für die Beurteilung von Architektur zuständig? Eine Baukommissionen, ein Fachkollegium, oder Verfahren wie Wettbewerbe und dergleichen?

Meiner Meinung nach sind dies prinzipiell alles gute Möglichkeiten, um Qualität zu fördern. Ich bin da anderer Meinung als ein Kollege, der vor kurzem öffentlich äusserte, dass man auf Wettbewerbe gänzlich verzichten könne, denn sie würden nicht zu besseren Lösungen führen. Fakt ist aber leider, dass Wettbewerbsaufgaben häufig nur ungenügend ausgearbeitet und somit falsch gestellt sind. In diesem Sinne sollte man Wettbewerbe lancieren, welche die richtige Fragestellung klären, also die grundlegende Problematik überhaupt ausmachen. Das Papierwerd-Areal in Zürich lässt grüssen…

Wie aber kann eine anzustrebende Zukunft realisiert werden?

Es muss eine politisch breit abgestützte Gesamtvision vorliegen. Und zwar eine, die nicht vorschreibt, wie etwas in ein paar Jahrzehnten auszusehen hat, sondern wie es aussehen könnte. Und Pläne müssen auch dann funktionieren, wenn nicht alle, sondern vorerst nur ein paar wenige mitmachen oder wenn sie nicht gänzlich realisiert werden. Eine derartige Aufwärtskompatibilität wie beim Campus Hönggerberg muss auch in «normalen» Quartieren möglich sein! Zudem muss das Verfahren transparent und verständlich sein, damit auch ein Normalsterblicher partizipieren kann. Die aktuelle Baugesetzgebung führt zu einer immer grösseren Entropie. Eigentlich müsste man für jeden neuen Artikel immer zwei alte streichen. Heute ist die Baugesetzgebung insgesamt so unverständlich und widersprüchlich, dass auch Experten nicht mehr durchblicken, dies aber nicht zugeben, weil sie daran gut und risikolos verdienen – mich eingeschlossen (lacht).