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Peter Märkli und Elisabeth Rutz
Studio Märkli

«Wir müssen nicht ein fertiges Bild entwerfen, sondern eine Struktur, die auch den zukünftigen Generationen erlaubt, ihre Vorstellungen zu realisieren.»

Wo sehen Sie Probleme in der heutigen Baugesetzgebung und Raumplanung?

Peter Märkli: Wir haben heute so viele und drängende Fragen für die Zukunft, dass man zuallererst die Zonenpläne und Baugesetze überdenken muss. Mein grösster Vorwurf am Zonenplan ist, dass er keine Vorstellung über die Zukunft in sich trägt. Er ist einfach etwas, das im Laufe der Zeit und aus gewissen Gewohnheiten heraus entstanden ist.

Die klassische Moderne hat zwei Neuerungen in die Welt gesetzt, die zu kritisieren sind. Die erste Kritik betrifft den Siedlungsbau. Der Siedlungsbau der Moderne operierte mit Bauten, die lose im Raum stehen. Der Strassenraum als gefasster und öffentlicher Raum wurde aufgegeben. Die zweite Kritik gilt der Auffassung, dass man das Leben und das Gewerbe in verschiedene Zonen trennen müsse.

Der Zonenplan ist also zu überdenken?

PM: Gesetze müssen, wenn notwendig, auch geändert werden. Ich frage mich, warum man in einer Stadt anstelle von Zonen nicht einfach ein Regelwerk definiert, das von der Innenstadt bis zu den Stadträndern gilt. Eine Regelbauweise für eine ganze Stadt. In einem zweiten Schritt sollen spezifische Qualitäten von Quartieren und Freiräumen geschützt werden, die wir für gut befinden. Die wirtschaftlich schwächeren Stadträume und Nutzungen müssen geschützt werden. Heute betrifft dies vor allem den öffentlichen Freiraum, denn er wirft keinen Profit ab. Zudem müssen in der Gegenwart, ähnlich wie in den 1980er Jahren in Zürich der Wohnanteil gegenüber Büros geschützt wurde, die Nutzungen im Erdgeschoss mit Subventionen gestützt werden. Denn diese tragen zu einem vielfältigen und belebten Strassenraum bei. Und wenn man den Strassenraum als kollektiven Raum versteht und erhalten möchte, dann darf man dort nur Hochparterre-Wohnungen machen und keine Erdgeschosswohnungen.

Ausnahmen oder Ergänzungen zum Regelwerk können beispielsweise auch für Hochhäuser erlassen werden. Setzen sie einzelne Zeichen im städtischen Gefüge? Oder können nicht auch neue Quartiere mit Hochhäusern entstehen? In einer pluralistischen und demokratisch organisierten Gesellschaft muss das möglich sein. Denn Demokratie bedeutet, dass nicht die Mehrheit darin Platz findet, sondern gleichermassen auch relevante Minderheiten. Ich bin gegen eine pauschale Anwendung der Zwei-Stunden-Schatten-Regel, denn diese lässt kein Hochhausquartier entstehen. Die Menschen sollen selber wählen, wie sie leben möchten. In einer offenen und demokratisch organisierten Gesellschaft müssen verschiedene Lebensweisen zugelassen werden.

Zunächst also sollte eine Regelbauweise definiert werden. Dann müssen die quartierspezifischen Qualitäten respektiert werden. Erst dann kommen die einzelnen Objekte, die man schützen kann. In erster Linie geht es um den kollektiven Raum. An diesem Raum partizipieren die Bauten. Wenn wir gute und intakte Strukturen haben, können die einzelnen Gebäude auch ausgewechselt werden. Eine Struktur umzubauen ist hingegen nicht so einfach möglich.

Sie haben jetzt über die Stadt gesprochen. Wie aber ist auf dem Land oder in Agglomerationsgemeinden vorzugehen?

PM: Da sehe ich prinzipiell zwei Möglichkeiten. Zum einen kann sich eine Gemeinde zur Stadt erklären, dann gelten ähnliche Bedingungen wie eben beschrieben. Zum anderen kann sie sich aber als ländlich verstehen und sich mit einer Dorfstruktur identifizieren. Auch dann muss vom Bestand ausgegangen werden. Dies ist neben den vorhandenen Bebauungsstrukturen der Dörfer und Quartiere insbesondere die Landschaft. Die Landschaft und Topografie prägten nämlich die Bebauungsstrukturen der Dörfer. Auf sie ist besondere Rücksicht zu nehmen.

Für Glarus Nord entwarfen Sie eine neue Zonenplanung mitsamt Baureglement. Wie gingen Sie dabei vor?

PM: Auch in Glarus Nord haben wir zunächst untersucht, welche Qualitäten vorhanden sind. Die Bevölkerung teilte uns mit, dass sie ihre Landschaft schätzen, ihre Dörfer bewahren und keine Stadt werden möchten. In Glarus gibt es entlang des Tals innerhalb jeder Gemeinde historische Dorfkerne, neue Erweiterungen der Dorfkerne in der Ebene mit orthogonalen Bebauungsstrukturen und zudem die Hanglagen. Unsere Zonenplanung berücksichtigt diese Gegebenheiten der Topografie und der Bebauungsstruktur. Sie sieht deshalb eine Dorfzone, eine erweiterte Dorfzone in der Ebene und eine erweiterte Dorfzone am Hang vor. Zudem gibt es natürlich auch die Industriezone.

Elisabeth Rutz: Die drei Dorfzonen unterscheiden sich aber nicht grundlegend. In allen gilt eine Regelbauweise. Zudem sind in beiden Zonen sowohl Wohnungen wie auch Gewerbe zulässig. Sie unterscheiden sich nur hinsichtlich einzuhaltender Flächenanteile oder ob man zugunsten eines grösseren Gartens zusammenbauen darf. In der Ebene ist dies möglich, am Hang hingegen wäre es für den fliessenden Aussenraum der Topografie nachteilig. Desweiteren haben wir einzelne Pflichtbaulinien definiert, damit die Aussenräume durch Bauten definiert werden. Das Privateigentum haben wir hingegen nicht angetastet, denn das ist ja oberstes Gebot in der Schweiz. Unsere Planung basiert also auf den vorhandenen Parzellen.

PM: Wir haben der Bevölkerung erklärt, wenn sie ihre Landschaft lieben, dann müssen sie die Topografie respektieren und sie nicht mittels Terrassierungen in horizontale Ebenen überführen. Das ist sehr wichtig! Bauen am Hang ist eine Kulturleistung, die wir aber verloren haben. Auch die Baureglemente verhindern ein richtiges Bauen am Hang. Wir haben definiert, welche Flächenanteile einer Parzelle bebaut oder verändert werden dürfen, und welche wiederherzustellen sind, um die Topografie der Landschaft zu erhalten.

Dann ging es auch in Glarus Nord in erster Linie darum, den Freiraum zu stärken und zu schützen?

PM: Genau, und dazu gehört auch die Problematik, dass alle Dinge, die man auf dem eigenen Grundstück nicht sehen möchte, auf den Strassenraum gerichtet sind. Beispielsweise Müllcontainer, oder in Dorfstrassen werden Vorgärten zu Parkflächen für Autos. Dieses Verhältnis zur Strasse ist in den Städten leider nicht anders.

Das Auto ist ein Faktor, den man in der Ortsplanung zwingend berücksichtigen muss. Wir wollten mit unserer Planung mehr Wohnraum schaffen und eine einfache Garagierung anbieten, die innerhalb des Gebäudes geschehen muss. Entweder im Erdgeschoss oder in einem halbversenkten Untergeschoss. Mit letzterer Lösung würde das erste Wohngeschoss in einem Hochparterre zu liegen kommen. Unsere vorgesehene Gebäudehöhe von 10 2/3 Meter lässt in beiden Fällen drei Vollgeschosse zu.

Wir haben bestimmt, dass die unveränderbaren Flächenanteile auch für unterirdische Bauten gelten. Diese dürfen nicht an die Ränder der Parzellen reichen, wie das in vielen Gemeinden der Fall ist. Rita Illien, die Landschaftsarchitektin, mit der wir zusammenarbeiteten, setzte sich vehement dafür ein. Ansonsten haben wir in Zukunft Quartiere ohne Bäume.

Welche Regelungen haben Sie für die einzelnen Bauten definiert?

PM: Wir wollten nur wenige Regeln definieren. Primär ein Volumen, das bebaut werden darf. Die Ausnützungsziffer fällt somit weg. Der bebaubare Flächenanteil bildet zusammen mit einer Gebäudehöhe und einem darauf liegenden Dachvolumen einen Mantel aus, innerhalb dem das Gebäude erstellt werden darf. Keinerlei Angaben machten wir zu Erkern, Attikageschossen oder dergleichen. Ich kenne nämlich keine Begründung, die erklärt, weshalb ein Drittel der Fassadenlänge für einen Erker eine bessere Proportion sei als beispielsweise ein Zweitel. Alles darf gebaut werden, solange es innerhalb des definierten Volumens Platz findet. Für die Garagierung allenfalls notwendige Erweiterungen des Erdgeschosses oder kleinere Bauten dürfen ausserhalb dieses Hauptvolumens liegen.

ER: Unser Raumplaner meinte, das von uns entworfene Reglement sei extrem liberal. Dabei schützt es das Wesentliche, nämlich den Aussenraum und die Bebauungsstruktur. Unser Baureglement sollte so schlank wie möglich sein, so wenige Artikel wie möglich haben. Auf schwammige Begriffe wie «eine besonders gute Einordnung der Bauten» und dergleichen, die verschiedenartig ausgelegt werden können und deshalb keine konkrete Aussage treffen, haben wir bewusst verzichtet.

Während des Ausarbeitung des Reglements kamen Artikel hinzu, die wir nicht vorsahen. Beispielsweise jener, dass eine Baukommission die Projekte abschliessend beurteilen kann. Die Gemeinde wollte wohl eine Art Rückversicherung, denn alle hatten Angst vor dem «roten Glashaus». Dabei stellt sich natürlich sofort die Frage nach der Kompetenz des Gremiums.

Gehören Fassaden nicht auch zum Siedlungsbild und damit der Öffentlichkeit?

PM: Natürlich gehören die einzelnen Bauten und ihre Ausbildung zum Erscheinungsbild eines Orts. Die ganze Diskussion um Ortsplanung geht jedoch unter, sobald man beginnt über die Erscheinung einzelner Bauten zu sprechen. Doch wäre das sicherlich ein zusätzlicher Wunsch. Zunächst aber müssen wir uns um das Grundlegende kümmern, und das ist die Struktur des Strassen- und Freiraums, der alles zusammenhält. Erst danach kann man über Fassaden diskutieren. Heute aber ist es nahezu unmöglich die Erscheinung einzelner Bauten zu bewerten. Wir leben nun mal in einer pluralistischen Gesellschaft.

Unser bebaubares Volumen in Glarus Nord verstehen wir deshalb als Gefäss, welches die übergeordnete Struktur schützt und die individuellen Vorlieben in diese Struktur des öffentlichen Raums einbettet.

Wir wollten für Glarus Nord einen möglichst einfachen Plan entwerfen, in dem alle gegenwärtigen Teilfragen eingebunden sind, der aber zugleich auch für künftige Generationen einen Interpretationsraum offen lässt. Zu viele Regeln schwächen dies. Ein solcher Plan operiert mit einer grossen Abstraktion: Nur ein paar Linien, zwei, drei Farben, das ist alles. Gleichzeitig beinhaltet er aber die ganze Vision einer möglichen Zukunft.

ER: Der Gemeinderichtplan, den wir für die Gemeinde entworfen haben, ist ein solcher Plan. Er ist leicht verständlich, die Bewohner konnten ihn lesen und haben ihn an der Gemeindeversammlung angenommen. Er bildet alles ab – Ränder, Freiräume, Dorfkerne – und eröffnete gleichzeitig, was alles möglich ist.

PM: Wie alle Kunst muss auch die Baukunst mit Fragestellungen der Gegenwart für die Zukunft etwas schaffen; sonst handelt es sich nicht um Kunst. Wir müssen uns nur auf die wesentlichen Aspekte einigen, die wir anstreben möchten. Wir müssen nicht ein fertiges Bild entwerfen, sondern eine Struktur, die auch den zukünftigen Generationen erlaubt, ihre Vorstellungen zu realisieren. Es ist in der heutigen Gesellschaft schlicht nicht mehr möglich, eine einzige Vorstellung der Welt zu haben. In einfachen Plänen liegt alles – eine Zukunft, die man nicht abschliesst, sondern offen lässt.

Müssen sich Architekten wieder aktiv in den politischen Diskurs einbringen?

PM: Die Frage für mich als Architekt ist: Handle ich in einem politischen Akt, oder mache ich in meiner täglichen Praxis das, was ich für richtig halte, im Sinne einer beständigen Hartnäckigkeit. Ich habe mich für letzteren Weg entschieden. Jeden Entwurf verstehe ich als Ansicht vom Leben und so auch als politische Aussage im Städtebau wie auch in der Erscheinung.

Die Zeit scheint gekommen zu sein, in der hinsichtlich der Raumplanung und Baugesetzgebung etwas Neues entstehen kann. Das ist aber eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die weit über das eigentliche Metier der Architekten hinausgeht. Da wir es mit Gewohnheiten zu tun haben, brauchen wir Geduld. Die Themen müssen jetzt aber lanciert und möglichst breit und öffentlich diskutiert werden.