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Stefan Kurath
Architekt, Urbanist, Professor am Institut Urban Landscape ZHAW und eigenes Büro in Zürich

«Formen Baugesetze? Dieser Frage spürt Stefan Kurath in seinem kurzen Essay nach und kommt zum Schluss, dass eine grosse Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit besteht.»

Formen Baugesetze?

Die letzten 100 Jahre der Ideengeschichte der Raumplanung fassen eine unglaubliche Vielfalt an Idealen, Zielen, Wünschen und Visionen einer erwünschten Entwicklung zusammen. Man kann also nicht sagen, dass es an Ideen mangelt, wie die Schweiz in Zukunft aussehen könnte.

Kennt man jedoch die Ziele und Vorstellungen der Raumplanung, wirkt ein Spaziergang durch die heutigen Stadtlandschaften «da draussen» ernüchternd. Es besteht offenbar eine grosse Diskrepanz zwischen Planervorstellungen und Raumwirklichkeit. Baugesetze formen. Klar. Die Frage ist aber wie und was genau? Darüber wissen wir zu wenig. Aus diesem Grund beschäftige ich mich als Architekt und Urbanist in meiner Forschung unter anderem seit mehreren Jahren mit den Grenzen und Chancen der Planung im Spiegel der städtebaulichen Praxis.

Von welcher Wirkung geht die Raumplanung aus?

Sehr verkürzt gesagt geht die Raumplanung von einer Ursache-Wirkung-Relation aus. Baugesetz und Zonenordnung setzen eine Entwicklung voraus, die an und für sich hehren Vorstellungen geordneter Entwicklung und guter Architektur unterliegen. Deren Verfasser gehen davon aus, dass dem Baugesetz und der Zonenordnung und damit ihren Vorstellungen Folge geleistet wird. Dieser Voraussetzungsreichtum wurde nicht nur durch das Gott-Vater-Modell der Planung geprägt, dem sich insbesondere Architektinnen und Architekten verschrieben haben. Auch das Governance-Modell der Planung, welches von Soziologen, Geografen oder Ökonomen zur Steuerung der Raumentwicklung ausgedacht worden ist, geht davon aus, dass ihren Anreizsystemen und Steuerungsversuchen Folge geleistet wird. Sie delegieren damit den Transport der Ziele und Vorstellungen in die Raumwirklichkeit an ihre Planwelten und Gesetzestexte, Steuermechanismen, politischen Organen und Verwaltungen.

Wie wirkt die Planung?

Die empirische Untersuchung der Entstehungsgeschichte von Schweizer Stadtlandschaften zeigt auf, dass die Stadtlandschaften «da draussen» Resultat gesellschaftlicher Aushandlungsprozessen sind. Hier treffen unterschiedlichste auch sich widersprechende Interessen aufeinander. Die verschiedenen Akteure bilden unterschiedlichste, sich stetig neu konstituierende Allianzen, mit dem Ziel die Realisierungschancen eigener Absichten zu verbessern. Dies führt auch zu unheiligen Allianzen, die das Ziel verfolgen, einschränkende Bestimmungen wie beispielsweise die der Nachhaltigkeit verpflichteten raumplanerischen, städtebaulichen, architektonischen und gestalterischen Vorgaben zu umgehen – ohne dass sich die meisten der involvierten Akteure der Auswirkungen der eigenen Entscheidungsprozesse auf den Raum bewusst wären.

Das heisst, die Dynamik gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse vermag raumplanerische Ziele bis zur Unkenntlichkeit zu unterspülen – eben auch trotz oder vielmehr aufgrund des Baugesetzes.

Wie wirken sich diese Allianzbildungsprozesse bei einer Entwicklung nach innen aus?

In den letzten Jahren hat die Entwicklung vorwiegend auf den grünen Wiesen stattgefunden. Hier sind die Allianzen so gebildet worden, dass das meiste realisiert werden konnte, da Opposition zumeist gering und die Sucht nach guten Steuerzahlern gross war. Beim Bauen im Bestand zeigt sich, dass sich nun auch Nachbarschaften formieren und Allianzen bilden mit dem Ziel bauliche Entwicklung zu verhindern. Dies führt zu einer Blockade der Entwicklung nach innen. Es gibt also allgemein dringenden Handlungsbedarf, sich den neuen Herausforderungen in Architektur, Städtebau und Raumplanung zu stellen und Misskonzeptionen der Planung anzugehen.

Was sind die grössten Baustellen bei der Innenentwicklung im Bezug zum Baugesetz?

Fünf Punkte stehen meiner Meinung nach im Vordergrund:

1. Die heutige Baugesetzgebung baut nach wie vor auf planerischen Grundsätzen auf, die aus einer Zeit stammen, in der mit städtebaulichen Massnahmen Brandkatastrophen und Epidemien bekämpft worden sind: Grenzabstände zur Brandbekämpfung, Nutzungstrennung zur Reduktion von Emissionen wie Abgase oder Lärm, hoher Freiflächenanteil für Licht, Luft und Sonne. Die Ursprungsprobleme sind heute grossmehrheitlich beseitigt. Nur – die Massnahmen haben neue Probleme hervorgebracht. Das Baugesetz muss nun diese Probleme angehen. Universell geltende Vorgaben wie Grenzabstände, Nutzungstrennung oder Dichtevorgaben nach Giesskannenprinzip sind grundsätzlich zu hinterfragen. Lokalspezifische Eigenarten und Qualifizierungsversuche müssen in den Vordergrund rücken. Dazu braucht es Rahmenbedingungen und Handlungsspielraum, siehe Monte Carasso oder Vrin.

2. Das Gesuch um eine Baubewilligung kommt in einem Moment, in dem Projekte inhaltlich bestimmt und Entscheide gefällt sind sowie viel Planungszeit bereits aufgewendet worden ist. Zu diesem Zeitpunkt noch massgebliche Veränderungen zu fordern, ist nur mit viel Aufwand und Insistieren möglich. Im Sinne einer produktiven Allianzbildung müsste insbesondere an neuralgischen Orten bereits vor Projektbeginn ein Austausch mit allen betroffenen Akteuren stattfinden, also zwischen Bauherrschaften, Investoren, Verwaltungen, Nachbarn, etc… Wenn Ziele und Bedenken früh auf dem Tisch und verbindlich geklärt sind, kann man beim Projektieren besser darauf reagieren. Was auf den ersten Blick als Einschränkung betrachtet wird, hilft Realisierungschancen grundlegend zu verbessern, wie unter anderem die Entstehungsgeschichte rund um das heutige Kultur- und Kongresszentrum Luzern beweist.

3. Die Raumplanung versucht flächendeckend in die Raumentwicklung einzugreifen. Wer jedoch flächendeckend über Dichten, Grenzabstände, Dachformen, Dachfensterarten, Gebäudevor- und -rücksprünge etc. Vorgaben macht, muss diese auch kontrollieren. Dabei werden zur rechnerischen Kontrolle von Nebensächlichkeiten wie Gebäudelängen, Dachgauben in Einfamilienhaussiedlungen wertvolle Ressourcen verwendet, die für die Entwicklung und Qualifizierung stadträumlich zentraler Orte fehlen.

4. Der öffentliche Raum ist in der Raumplanung der letzten 100 Jahre vollkommen vergessen gegangen. Dieser ist jedoch für die gesellschaftliche Kohäsion und Integration von Menschen in die Gesellschaft von zentraler Bedeutung. In Zukunft muss also an der Idee und Umsetzung des öffentlichen Raumes gearbeitet werden, wie es beispielsweise in Lausanne Ouest gemacht wird. Dies meint nicht die blosse Erneuerung bestehender Dorfplätze oder innerstädtischer Alleen sondern ebenfalls bewusste Setzungen öffentlicher Institutionen und Anlagen, Integration von Freizeit- und Naherholungsräumen – insbesondere deren Erschliessung für den Langsamverkehr – sowie die Verbesserung ihrer Auffindbarkeit und Gestaltung. Der Verknüpfung von Erdgeschoss und Stadtraum sowie deren Nutzung und Gestaltung ist Bedeutung zuzumessen – mit dem Ziel lebenswerte Stadträume zu schaffen. Die Mehrwertabschöpfung muss hier Wirkung entfalten.

5. Die Auseinandersetzung mit der Entstehungsgeschichte der Raumwirklichkeit hat gezeigt, dass das Delegieren an Planungsinstrumente zumeist nicht beabsichtigte Folgen nach sich zieht. Zu grosse Einzonungen verunmöglichen eine Lenkung der Raumentwicklung, Sonder- und Ausnahmebewilligungen unterspülen planerische Ziele, etc. Es ist dringend notwendig, dass sich Architektinnen und Architekten wie alle anderen Fachleute, die sich als Advokaten des Raumes betrachten und sich (wie im Falle von Riom-Origen, Versam oder Vri) proaktiv in die gesellschaftlichen Aushandlungsprozesse einbringen, Mehrwerte von Architektur, Landschaftsarchitektur und Städtebau diplomatisch vermitteln und Aufklärung betreiben, mit dem Ziel für ein besseres Verständnis für Baukultur und der Umsetzung städtebaulicher Anliegen zu sorgen. Es braucht die politische Architektin, den politischen Architekten!